Rafael Laguna hat als Chef der Bundesagentur Sprind die Aufgabe, radikal neue Technologien zu fördern. Er ist überzeugt: Innovative Köpfe gäbe es dafür in Deutschland genug – wenn man sie denn nur machen liesse.

«Wir stopfen ein Baby ja auch nicht mit dem gesamten Weltwissen voll»: Rafael Laguna, Chef der Bundesagentur für Sprunginnovationen (Sprind).
Mattia Balsamini / Sprind
Dass Deutschland ein Problem mit dem Thema Innovation hat – das wurde Rafael Laguna vor elf Jahren klar. Der heutige Chef der Bundesagentur für Sprunginnovationen (Sprind) hatte sich damals gerade einen Tesla gekauft. Fast alle, denen er mit seinem neuen Auto begegnete, lachten ihn aus. Das Fahrwerk sei schlecht, die Verarbeitung eine Katastrophe, das ganze Auto ein Witz. «Aus den Einschätzungen sprach die totale Überheblichkeit», sagt er rückblickend. Und ihm schwante: «In Deutschland merken wir viel zu langsam, welche Konkurrenz da auf uns zukommt.»
Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Für Laguna ist Tesla seither ein Lehrstück: als Marke, die aus dem Nichts kam und eine Branche umpflügte, in der die deutschen Platzhirsche dachten, sie seien technologisch uneinholbar voraus. Und als ein Unternehmen, das zeigt, wie radikal neue Technologien ganze Branchen erschüttern können.
Genau diese Art von Innovation will Laguna in Deutschland wieder ermöglichen. Der Begriff Sprunginnovation steht für ein neues Produkt, das nicht bloss verbessert, was bereits auf dem Markt existiert, sondern ein Feld so umkrempelt, dass das Alte im Extremfall vom Neuen hinweggefegt wird.
Vorbild USA
Laguna soll mit seiner Bundesagentur dafür sorgen, dass Deutschlands Wirtschaft diesen Wandel künftig wieder antreibt – und nicht zu jenen gehört, die von ihm überrollt werden. Der politische Anstoss zur Gründung der neuen Institution kam 2017, als Angela Merkel öffentlich eine neue Form der Innovationspolitik forderte – ausdrücklich nach dem Vorbild der amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa).
Diese 1958 gegründete Behörde des Pentagons finanziert sich aus Steuermitteln und hat entscheidende Beiträge zu Technologien wie dem Internet, GPS oder KI geleistet. Sie war damit so erfolgreich, dass andere Industrieländer seither ähnlich operierende Institutionen gegründet haben: etwa die Advanced Research and Invention Agency (Aria) in Grossbritannien oder das japanische Moonshot-Programm für Forschung und Entwicklung.
Ihr gemeinsames amerikanisches Vorbild gilt als Gegenentwurf zur üblichen staatlichen Innovationsförderung: Der Auftrag der Darpa richtet sich bewusst auf Vorhaben, die hochriskant sind, aber im Erfolgsfall enorme Veränderungen anstossen. Sie gibt zudem keine Lösungen vor, sondern setzt üblicherweise Ziele, um deren Lösung dann mehrere Teams konkurrieren. Damit soll das Grundproblem staatlicher Innovationspolitik entschärft werden: dass Beamte kaum wissen können, welche Technologien sich am Markt durchsetzen werden.
Laguna leitet seit 2019 die deutsche Version dieses Modells. Er ist in einer Unternehmerfamilie aufgewachsen und kam früh mit Computern in Berührung. Mit sechzehn gründete der spätere Studienabbrecher seine erste Softwarefirma. Danach baute er mehrere Unternehmen auf, eines davon verkaufte er in die USA. Laguna sitzt seit Jahren im Verwaltungsrat des Schweizer Online-Vergleichsportals Comparis.
Als künftigen Chef der neuen Agentur sah er sich anfangs nicht. Er war Unternehmer, Gründer und Investor und führte, wie er sagt, ein glückliches Leben. Doch die Aufgabe liess ihn nicht los. Heute steht er als Direktor rund 130 Mitarbeitenden vor und verantwortet ein Budget von derzeit gut 250 Millionen Euro pro Jahr.
Schnelle Entscheide
Zwar gibt es in Deutschland auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene unzählige Förderinstitutionen. Doch Sprind arbeitet grundlegend anders. Die Bundesagentur hat zwei Finanzierungsschienen: Challenges, bei denen mehrere Teams um die beste Lösung eines vorgegebenen Ziels konkurrieren, und Projekte, über die einzelne Startups schnell finanziert werden können. Herzstück sind – ähnlich wie bei Darpa in den USA – die Innovationsmanager: erfahrene Unternehmer, Forscher oder ehemalige Führungskräfte, die innert weniger Tage und weitgehend unabhängig entscheiden können, welche Projekte mit staatlichen Mitteln unterstützt werden. Eine weitere ihrer Aufgaben ist es, den geförderten Unternehmen zu helfen, rasch privates Wagniskapital zu finden, denn nur so haben diese eine Zukunft.
Die meisten dieser Experten haben selbst Firmen gegründet oder grosse technische Projekte geleitet. Sie wollen ihre Erfahrung nochmals einbringen – ohne den Druck von Quartalszielen oder die Pflicht, Beteiligungen möglichst rasch und möglichst teuer zu verkaufen, wie es bei Wagniskapitalfonds üblich ist.
Ihre Aufgabe ist enorm. Sie sollen Innovationssprünge ermöglichen in einem Land, das sich beim Erneuern zunehmend selbst im Weg steht. Laut Laguna haben sich in Deutschland die Systeme Wirtschaft, Wissenschaft und Politik weitgehend voneinander abgeschottet und kümmern sich vor allem um die Erhaltung des Bestehenden.
Etwa in der Industrie: Diese sei sehr gut darin, ihre Produkte in Schritten zu verbessern – aber nicht darin, eingeschlagene Pfade zu verlassen. Die Wissenschaft wiederum messe den Erfolg an den Zitierungen und eingesammelten Drittmitteln – aber zu wenig an der Anzahl Unternehmen, die aus der universitären Forschung hervorgingen. «In Deutschland gibt es nicht genügend Professoren, die Unternehmen gründen – oder Unternehmer, die in die Politik gehen», sagt er. Der Mangel an Durchlässigkeit verhindert aus seiner Sicht, dass radikale Ideen überhaupt eine Chance erhalten.
Dass die Probleme nicht bei den Talenten liegen, sondern beim System, zeigt auch ein Blick in die Daten. Laut einer Studie der Deutschen Bank haben Startups ihren Anteil an den Beschäftigten seit 2020 zwar gesteigert. Insgesamt stellen sie aber nur 1,1 Prozent aller Erwerbstätigen – viel weniger als etwa Schweden (2,1 Prozent), Grossbritannien (2,2 Prozent) oder die USA (8,4 Prozent).
Mehr Patente als die USA
Dabei wären die Voraussetzungen gut: In Deutschland werden pro Kopf noch immer mehr Patente erteilt als in den USA, wie Laguna sagt. Und auch bei Sprind selbst zeigt sich, dass es an Ideen nicht fehlt. Pro Jahr gehen dort bis zu 500 Projektvorschläge ein. Den meisten mangelt es zwar am disruptiven Potenzial, nach dem die Agentur sucht. Rund 8 Prozent aber besitzen aus Sicht der Innovationsmanager genug Sprengkraft, um gefördert zu werden.
Und so unterstützt Sprind inzwischen ein breites Feld radikaler Ansätze: völlig neue Materialien für Batterien, Kernfusion-Startups, Diagnostik-Plattformen, die seltene Krankheiten schneller erkennen – oder die Kerntechnologie des Schweizer Startups Transmutex.
Dieses stammt zwar nicht aus Deutschland, adressiert aber ein sehr deutsches Problem. Die von ehemaligen Forschern des renommierten Cern in Genf entwickelte Technologie soll hochradioaktiven Abfall in frischen Brennstoff und wertvolle Isotope für die radiologische Medizin umwandeln. Zwar bleiben 10 Prozent der Abfälle zurück, doch diese haben eine Halbwertszeit von rund tausend Jahren – und nicht von einer Million Jahren wie heute. Atommüll hat das Land reichlich, weil der Bau eines Endlagers noch immer in weiter Ferne liegt.
Im Kerntechnologie-feindlichen Deutschland ist die Umsetzung einer solchen Idee zwar schwierig. Doch im Gespräch zeigt sich, dass Laguna nicht nur bei Technologien nach Disruption sucht, sondern auch bei Deutschlands Denkverboten. In der Kerntechnologie habe die Politik die rechtlichen Rahmenbedingungen über die Jahrzehnte so verschärft, dass sich kaum noch irgendetwas umsetzen lasse, erklärt er. Das Paradoxe: Diese selbstgebauten Hindernisse gelten heute vielen als Beleg dafür, dass die Kerntechnologie in Deutschland chancenlos sei – statt dass man darüber nachdenke, ob man solche Hemmnisse nicht einfach wieder abbauen könnte.
Millionen für neuartige KI
Ähnlich wie in der Kerntechnik hält Laguna auch bei der KI wenig von vorschnellen Urteilen. Er widerspricht all jenen, die überzeugt sind, Europas Rückstand auf die USA sei längst nicht mehr wettzumachen. Sein Argument: KI stehe erst ganz am Anfang. Oder wie er es formuliert: «Die KI, die wir heute verwenden, ist die schlechteste, die wir jemals benutzen werden.» Die heutigen Modelle seien hochgradig ineffizient. Sie verschlingen enorme Mengen an Energie und Daten, um Ergebnisse zu liefern, die das menschliche Gehirn mit einem Bruchteil der Leistung erreicht.
Dass der Bereich Fahrt aufnimmt, zeigt sich auch in den Zahlen. Seit dem Start von Chat-GPT Ende 2022 ist KI zu dem Gründungsfeld geworden, in dem in Deutschland derzeit die meisten neuen Startups entstehen – noch vor den Umwelttechnologien, wie die Startup-Studie der Deutschen Bank zeigt.
Diesen Schwung will Laguna nutzen. Sprind bereitet eine grosse KI-Challenge vor, die im kommenden Frühsommer starten soll – ausgestattet mit 125 Millionen Euro Förderkapital.
Gesucht werden Teams, die nicht einfach bestehende Modelle verfeinern, sondern völlig neue Wege gehen: Rechner, die nicht so energiehungrig sind, oder Lernmethoden, die sich stärker an die Funktionsweise des menschlichen Gehirns anlehnen. «Wir stopfen ein Baby ja auch nicht mit dem gesamten Weltwissen voll», sagt Laguna – doch genau das täten heutige KI-Modelle: Sie verschlingen riesige Datenmengen, statt wie das Gehirn aus wenigen Beispielen zu lernen.
In den kommenden 33 Monaten sollen aus dieser Challenge drei europäische Unternehmen hervorgehen, die KI nicht nur anwenden, sondern auch KI-Modelle vollständig selbst entwickeln – von der grundlegenden Technik bis hin zu konkreten Anwendungen. Das Ziel: Sie sollen Konkurrenten von Chat-GPT oder Gemini von Google werden.
Zu viele Verkäufe ins Ausland
Für Laguna geht es aber nicht nur darum, neuen Technologien zum Durchbruch zu verhelfen. Für ihn ist es entscheidend, dass die Firmen, die daraus entstehen, auch hier wachsen können. Heute ist das selten: Rund 80 Prozent der jungen Technologieunternehmen in Deutschland, die eine Bewertung von 20 Millionen Euro und mehr erreichen, werden ins Ausland verkauft, wie er sagt.
Aus Sicht der Gründer ist das verständlich. In Deutschland fehlt es laut Laguna an Wagniskapital für grosse Finanzierungsrunden. Für die Volkswirtschaft aber sei das fatal. Denn mit den Firmen verschwinden auch die Wertschöpfung, die Arbeitsplätze und das Wissen aus dem Land. Deutschland scheitere darum nicht an fehlenden Ideen, sagt Laguna, sondern daran, sie im eigenen Land gross werden zu lassen.
Sprind soll das nun ändern, indem die Agentur radikale Technologien aufspürt, finanziert und so schnell wie möglich in die Anwendung bringt – samt der Option, sich direkt an Unternehmen zu beteiligen. Etwas böswillig könnte man den Auftrag der Agentur auch so beschreiben: Sie soll so ziemlich das Gegenteil einer durchschnittlichen deutschen Behörde sein: schnell, unkompliziert, resultatorientiert.
Ob sich das amerikanische Vorbild allerdings erfolgreich auf Deutschland übertragen lässt, steht in den Sternen. Das Budget ist kleiner, der politische Rückhalt geringer – und das Land tut sich traditionell schwer mit radikalen Ansätzen. In gewisser Weise ist bereits die Behörde selbst eine Art Sprunginnovation: ein Versuch, im risikoscheuen Deutschland das unmöglich Erscheinende möglich zu machen – allen Widerständen zum Trotz.
Helmut Gradic
vor 52 Minuten1 Empfehlung
Die „Kerntechnologie des Schweizer Startups Transmutex … soll hochradioaktiven Abfall in frischen Brennstoff und wertvolle Isotope für die radiologische Medizin umwandeln“.
Seit 1955 bis heute sind in Deutschland ca. 27.000 Qubikmeter hochradioaktiver Abfall angefallen. (Übrigens werden in Deutschland jedes Jahr ca. 1.000.000 Qubikmeter chemisch gefährlicher Sondermüll unterirdisch entsorgt.)
Den hochradioaktiven Atommüll noch weiter auf weinger als 10 % zu reduzieren nennt man Wiederaufarbeitung. Nachdem die in Deutschland geplanten Wiederaufarbeitungsanlagen zunächst in Gorleben und dann in Wackersdorf aufgegeben wurden, haben die deutschen Kernkraftwerke in Frankreich (La Haque) und Großbritannnien (Sellafield) wiederaufarbeiten lassen.
Dies wurde jedoch per Atomgesetzänderung vom 1.7.2005 verboten.
Schacht Konrad ist als Endlager für schwach- und mittelaktiven Abfall seit März 2007 letztinstanzlich genehmigt, aber nach 18 Jahren immer noch nicht in Betrieb.
Das Standortauswahlgesetz sieht vor, dass für hochradioaktive Abfälle ein Standort mit der bestmöglichen Sicherheit zur Endlagerung“ ermittelt wird. (Für ein Endlager ist nicht der bestmögliche Standort entscheidend, sondern die Erfüllung der Eignungsanforderungen.)
Das StandAG ist die Option für eine endlose Suche.
Die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) hat den untersuchten und geeigneten Salzstock bei Gorleben durch willkürliche Neuinterpretation bisher verwendeter Begriffe von der weiteren Suche ausgeschlossen.
Es ist ja schön wenn Startups gefördert werden sollen. Viel wichtiger wäre der Ersatz der Kernenergiegegner durch kompetente Leute im Bundesumweltministerium und den nachfolgenden Organisationen.
Christoph Passmann
vor 2 Stunden1 Empfehlung
Es gehört schon zur Folklore aller weltweit führenden Technologieunternehmen, dass sie in einer Garage gegründet wurden. Im Land der 16 Garagenverordnungen (de.wikipedia.org/wiki/Garagenverordnung) ist genau das strengstens untersagt.


